Rechtsstellung der Tiere in der Schweizer Gesetzgebung

Tiere sind keine Sachen (mehr)…

Diese Änderungen vom 4. Oktober 2002 wurden auf 1. April 2003 in Kraft gesetzt; der neue Artikel 720a Absatz 2 des Zivilgesetzbuchs (betreffend Meldestellen für entlaufene Tiere) auf 1. April 2004. Siehe dazu meine Anfrage vom 5. November 2003 im Kantonsrat Thurgau.

Ziel der Gesetzesrevision war, dem gewandelten Empfinden gegenüber Tieren Rechnung zu tragen und diese rechtlich besser zu stellen. Die Achtung vor dem Tier wurde in einem neuen Grundsatzartikel 641 a des Zivilgesetzbuches ausgedrückt. Danach sollen Tiere nur soweit als Sachen behandelt werden, als keine abweichenden neuen Vorschriften bestehen. Solche Neuerungen betreffen nun das Erbrecht, das Fundrecht, die Übertragung von Eigentum und Besitz von Tieren, die richterliche Zusprechung von Tieren, eine ausdrückliche Schadenersatzpflicht für Heilungskosten bei Verletzung eines Vierbeiners sowie die Berücksichtigung dessen gefühlsmässigen Wertes bei der Schadensbemessung. Mit den neuen Gesetzesbestimmungen hat die Schweiz im Vergleich zum benachbarten Ausland ähnliche Vorschriften wie Deutschland und Österreich, während im französischen und italienischen Privatrecht Tiere nach wie vor zu den Sachen gezählt werden.

Keine neue rechtliche Kategorie

Mit dem neuen Grundsatzartikel 641 a ZGB erhalten Tiere die Anerkennung als lebende und fühlende Mitgeschöpfe. Sie werden nur noch insofern als Sachen betrachtet, als keine Sondernormen bestehen. Allerdings hat dieser Grundsatz vorwiegend deklaratorischen Charakter; es wird keine neue rechtliche Kategorie geschaffen. Das schweizerische Privatrechtssystem basiert grundsätzlich auf der Unterscheidung zwischen „Personen“ und „Sachen“; Rechtssubjekten und Rechtsobjekten. Tiere sollen auch nach der Revision als Rechtsobjekte betrachtet werden und keine Rechtsfähigkeit haben. Ich werde beispielsweise nach wie vor (in den üblichen Schranken der Rechtsordnung, zum Beispiel unter Beachtung der Tierschutzbestimmungen etc.) meinen Hund verkaufen können, aber nicht er mich. Dies ist dem Recht systemimmanent und hat mit mangelnder Achtung vor der Kreatur nichts zu tun. Anders lässt sich die juristische Abwicklung von Rechtsgeschäften nicht lösen.

Heilungskosten für verletztes Tier

Eine grosse Bedeutung gerade für Hundehalterinnen und -halter wird der neue Art. 42 Abs. 3 des Obligationenrechts (OR) erlangen. Wird ein Hund, dessen Geldwert z. B. 800 Franken beträgt, nach einem Autounfall tierärztlich z. B. für 1'400 Franken behandelt, so musste die haftende Person (und damit auch deren Versicherung) nach altem Recht höchstens den Geldwert von 800 bezahlen. Hier schafft das neue Recht eine langersehnte Remedur und hält fest, dass Heilungskosten in einem vernünftigen Rahmen auch über den reinen Geldwert des verletzten Tieres zu begleichen sind. Voraussetzung nach altem wie neuem Recht ist, dass beim Verursacher eine Pflicht zur Haftung grundsätzlich gegeben und die Behandlung des verletzten Tieres geeignet und erforderlich war.

Da eine eingehende Besprechung aller neuen Bestimmungen hier unmöglich ist, habe ich die wesentlichen Änderungen in der unten aufgelistet. Insgesamt werte ich die Revision der Tierrechte als positiv. Sie ermöglichen in den wichtigen Belangen des täglichen Lebens eine dem heutigen Volksempfinden angepasste rechtliche Besserstellung der Tiere, ohne gleich das Rechtssystem durcheinander zu bringen. Die Revision löst aber auch nicht alle Probleme. Die kurze Frist von zwei Monaten, wonach ein Finder Eigentümer wird, mag für Tierheime ein wesentlicher Vorteil sein, um das Findeltier rasch zu placieren. Die Regelung könnte aber für Menschen, denen ein ans Herz gewachsenes Tierchen entläuft, unter Umständen zur bittern Enttäuschung werden, wenn sie ihren „verlorenen Sohn“ nach zweieinhalb Monaten nicht mehr zurückfordern können.

Übersicht

Erbrecht
Wird ein Tier mit einer Zuwendung von Todes wegen bedacht, so gilt die entsprechende Verfügung als Auflage, für das Tier tiergerecht zu sorgen.

Fundrecht
Die Kantone müssen eine Fundstelle bezeichnen.

Eigentumserwerb / Ersitzungsfrist
Der gutgläubige Finder eines nicht zu Erwerbszwecken gehaltenen Haustieres kann nach zwei Monaten (früher 5 Jahren) Eigentümer werden.

Richterliche Zusprechung von Tieren
Bei Auflösung einer Gemeinschaft (Ehe, Erbgemeinschaft, Konkubinat etc.) soll im Streitfall der Richter das Tier nach tierschützerischen Aspekten derjenigen Partei zusprechen, welche ihm die bessere Unterbringung gewährleistet.

Schadenersatzpflicht bei Verletzung eines Tieres
Nach der Verletzung eines Tieres können gemäss Art. 42 Abs. 3 des Obligationenrechts auch Heilungskosten, welche den Wert des Tieres übersteigen, geltend gemacht werden.

Affektionswert (Gefühlswert)
Wenn ein Tier verletzt oder getötet wird, kann dem gefühlsmässigen Wert, den dieser für seinen Halter oder dessen Angehörige hatte, angemessen Rechnung getragen werden.

Pfändung
In einem Artikel des Schuldbetreibungs- und Konkursgesetzes wird festgehalten, dass Tiere, die im häuslichen Bereich und nicht zu Vermögens- oder Erwerbszwecken gehalten werden, unpfändbar sind.


Entscheid des Nationalrates vom September 2002

Tiere sollen rechtlich  besser gestellt werden. Der Nationalrat hat am  18.9.2002  einer Parlamentarischen Initiative von Ständerat Dick Marty (Tessin, fdp.) zugestimmt. Damit ermöglicht der NR eine Gesetzesänderung, welche die Tiere von der Sache auf die Ebene empfindungsfähiger Wesen erhebt. Der Entscheid fiel mit 96 zu 11 Stimmen deutlich aus. Martys Vorstoss galt als indirekter Gegenvorschlag zu den beiden Volksinitiativen «Tiere sind keine Sache» und «Für eine bessere Rechtsstellung der Tiere». Diese wurden deutlich abgelehnt. Bereits stellte Brigitta Gadient (svp., Graubünden) in Aussicht, dass die zweite Initiative zurückgezogen wird.

Die Volksinitiativen und damit eine drohende Verfassungsänderung waren aber offenbar der nötige Wink mit dem Zaunpfahl für die grosse Kammer. Der Nationalrat hatte im Dezember 1999 nämlich zwei parlamentarische Vorstösse abgelehnt, welche die Tiere rechtlich besser gestellt hätten. Dieser Entscheid führte zu breitem Unmut in der Bevölkerung und ermöglichte das rasche Zustandekommen der beiden Volksinitiativen.

Gesetzes- statt Verfassungsebene

Ständerat Marty hat erkannt, dass Tiere heute in der Bevölkerung einen anderen Stellenwert haben als noch vor Jahrzehnten. Gleichzeitig wollte er die Angelegenheit auf Gesetzesebene ändern und nicht in der Verfassung festschreiben. Der Ständerat folgte Marty in der Frühlingssession ohne Gegenstimmen. Nun hat auch der  Nationalrat den gleichen Weg wie der Ständerat eingeschlagen.

Kommissionssprecher Ulrich Siegrist (svp., Aargau) sagte, dass Tiere nach der Gesetzesänderung nicht vermenschlicht würden, dass ihre Empfindungs- und Leidensfähigkeit aber berücksichtigt werde. Tieranwälte erwähnt das Gesetz nicht. Siegrist erklärte, dass der vorgesehene Affektionswert nichts mit einer überrissenen finanziellen Genugtuung zu tun habe. Schadenersatzforderungen im amerikanischen Stil müssten nicht befürchtet werden.


 

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